Agilverliebt gegen Prozessbegeistert. Kommt dir bekannt vor?
Von Sepp Baumeister, veröffentlicht am 11 November 2024
Agilverliebt gegen Prozessbegeistert: Ein Schlagabtausch zwischen Flexibilität und Struktur
Im heutigen Wandel von Unternehmen in Richtung Agilität gibt es zwei deutlich verschiedene Lager: die „Agilverliebten“, die auf maximale Flexibilität setzen, und die „Prozessbegeisterten“, die feste Strukturen schätzen. In einem Interview im Rahmen des letzten Living Change Forums diskutierten wir die Herausforderungen und Missverständnisse, die zwischen diesen beiden Denkweisen bestehen. In diesem Artikel tauchen wir in die Kernelemente der Diskussion ein und sehen, wie Unternehmen den Balanceakt zwischen Agilität und Prozessorientierung schaffen können.
Agilität und Prozesse – Missverständnisse und Vorurteile
Ein häufiges Missverständnis im Zusammenhang mit Agilität ist, dass Agilität gleichbedeutend mit Chaos und mangelnder Struktur sei. Unser Associate Partner Lukas Bargel erklärte: „Wenn wir in agilen Projekten arbeiten, treffen wir oft auf Vorurteile gegenüber Agilität. Diese rühren oft daher, dass Prozesse als statisch und langwierig wahrgenommen werden, während Agilität als zu schnell und unstrukturiert empfunden wird.“
Die prozessliebenden Mitarbeitenden wünschen sich Klarheit und eine gewisse Ruhe in den Abläufen. Sie schätzen den verlässlichen Ablauf von Phasen: eine Planungsphase, die dann abgeschlossen wird, gefolgt von der Umsetzungsphase, bis zur Abnahme und Nachverfolgung. Agilität hingegen sieht ähnliche Phasen vor, aber diese durchlaufen den Zyklus in deutlich kürzeren Zeitabständen, wie beispielsweise bei Scrum.
Das agile Paradox: Struktur durch Rahmenwerke
Die Hauptunterschiede zwischen Agilität und Prozessen liegen in der Taktung und der Anpassungsfähigkeit. In einem agilen Rahmenwerk wie Scrum werden Planungs- und Umsetzungsphasen in wenigen Wochen durchlaufen und immer wieder angepasst. Eine der großen Herausforderungen ist es jedoch, diese neue Arbeitsweise den Teams verständlich zu machen. So bemerkte ein Teilnehmer des Forums: „Wenn der CEO sagt, ‚Wir werden jetzt agil‘, erzeugt das Unsicherheit. Ein zentrales Missverständnis ist, dass Agilität ohne Struktur daherkommt. Aber auch agile Methoden setzen auf klare Prozesse – nur eben kürzere und häufigere Zyklen.“
Um dieses Verständnis zu schaffen, führen Unternehmen oft mit einem „Framework“ wie Scrum oder Kanban ein, das dem Team Struktur und Sicherheit gibt. Später, wenn die Teams Erfahrung sammeln, kann dieses Framework flexibel angepasst werden. Die Einführung von Agilität sollte dabei schrittweise und nicht von heute auf morgen geschehen, da eine plötzliche Veränderung viele Mitarbeiter überfordern kann.
Herausforderung: Agilität unternehmensweit einführen
Eine besondere Herausforderung ist die unternehmensweite Einführung agiler Methoden. „Wir erleben häufig, dass einige Abteilungen vollkommen agil arbeiten, während andere ihre bestehenden Prozesse beibehalten,“ so der Agile Coach im Forum. Dies führt nicht selten zu Konflikten, da die Terminologien und Arbeitsweisen zwischen den Abteilungen stark voneinander abweichen. So müssen Begriffe wie „PI Planning“ oder „Scrum of Scrums“ den nicht agilen Abteilungen oft erst erklärt werden.
In einer komplexen Unternehmensstruktur kann es sinnvoll sein, nicht alle Bereiche gleichermaßen agil zu gestalten. Routineaufgaben und stark regulierte Bereiche profitieren oft von festen Prozessen, während Innovationsprojekte und dynamische Aufgaben agiles Arbeiten benötigen. Ein Teilnehmer im Forum bemerkte treffend: „Es ist sinnvoller, Agilität dort einzuführen, wo dynamisches Arbeiten wirklich gefragt ist und nicht auf Zwang überall.“
Rollen und Selbstorganisation in agilen Teams
Ein weiterer Aspekt, der im Forum ausführlich diskutiert wurde, ist die Rollenverteilung in agilen Teams. In der agilen Welt wird Führung typischerweise geteilt: Fachliche Führung, die Verantwortung für die Methode und die Prozesssteuerung werden auf unterschiedliche Rollen aufgeteilt, wie den Product Owner, Scrum Master und das Entwicklungsteam. Die traditionelle Teamleiter-Rolle wird oft durch eine Mischung dieser Rollen ersetzt, was zu Unsicherheiten bei langjährigen Führungskräften führen kann.
„In einer klassischen Organisation haben die Teamleiter alle Führungsverantwortung vereint,“ erklärte einer der Forumsteilnehmer. „Nun aber teilen sie ihre Befugnisse mit dem Scrum Master und dem Product Owner, was für manche eine Umstellung bedeutet.“ Dieses geteilte Führungsmodell ermöglicht jedoch eine stärkere Fokussierung auf die einzelnen Stärken der Mitarbeiter.
Kulturwandel durch neue Kommunikation und Sprachbarrieren
Im agilen Umfeld gehört auch eine veränderte Kommunikation zum Alltag. Die Einführung von agilen Frameworks bringt nicht nur neue Arbeitsweisen, sondern auch neue Begrifflichkeiten mit sich, die bei vielen Mitarbeitern für Verwirrung sorgen können. „Viele dieser neuen Begriffe haben ihren Ursprung im Englischen, was eine zusätzliche Sprachbarriere schafft,“ kommentierte ein Teilnehmer.
Die Herausforderung besteht darin, die agilen Begriffe zu verstehen und anzuwenden, ohne dass die eigentliche Bedeutung verloren geht. „Ein PI Planning ist nicht dasselbe wie ein normales Projekt-Meeting, und es gibt klare Unterschiede,“ so der Teilnehmer. Ein gemeinsames Glossar oder ein agiles Playbook kann hier Abhilfe schaffen und den Mitarbeitern helfen, sich in der neuen Terminologie zurechtzufinden.
Der Kunde als Maßstab: Hypothesenbasiertes Arbeiten
Ein weiterer zentraler Gedanke im agilen Arbeiten ist die Ausrichtung auf den Kunden und das Arbeiten auf Basis von Hypothesen. In einem agilen Umfeld wird oft eine Hypothese zur Kundenbedürfnisformulierung aufgestellt, die in kurzen Zeitabständen überprüft und ggf. angepasst wird. So wird regelmäßig überprüft, ob der entwickelte Prototyp tatsächlich dem Kundenbedürfnis entspricht.
Dieses Arbeitsmodell bietet Flexibilität, erfordert aber auch eine Offenheit gegenüber Fehlschlägen und die Bereitschaft zur ständigen Anpassung. Einer der Diskutanten sagte dazu: „Hypothesenbasiertes Arbeiten bedeutet, dass wir bereit sein müssen, auch mal falsch zu liegen, anstatt an unseren Annahmen festzuhalten. Agilität erfordert die Fähigkeit zur Selbstreflexion und den Mut, eigene Fehler anzuerkennen.“
Die Größenbegrenzung agiler Arbeitsweisen und das Skalieren von Agilität
Interessant ist die Frage, ob es eine natürliche Größenbegrenzung für agiles Arbeiten gibt. Je mehr Abhängigkeiten und Zulieferungen es in einem großen Unternehmen gibt, desto schwerer fällt es oft, agil zu arbeiten. Ein Teilnehmer merkte an: „Es gibt eine Grenze, ab der Agilität an Geschwindigkeit verliert, und das ist oft dann der Fall, wenn immer mehr Hierarchien und Fachabteilungen eingebunden sind.“
Ein großes Unternehmen, das sich beispielsweise jährlich neu justiert hat, kann sich durch agile Methoden vielleicht quartalsweise anpassen. Die Geschwindigkeit der Veränderung nimmt also zu, bleibt aber relativ zur Unternehmensgröße langsamer als in kleinen agilen Teams.
Motivation und der „War for Talents“ im agilen Umfeld
Eine interessante Erkenntnis des Forums war auch, dass Agilität oft ein entscheidender Faktor im „War for Talents“ ist. Viele junge Fachkräfte erwarten heute eine moderne Arbeitsumgebung, die auf Agilität und Selbstorganisation basiert. Ein Teilnehmer stellte fest: „Im IT-Sektor wird zunehmend nach agilen Methoden gefragt, da jüngere Mitarbeiter diesen Arbeitsstil bevorzugen. Wer das nicht anbietet, läuft Gefahr, als Arbeitgeber unattraktiv zu werden.“
Diese Entwicklung stellt eine Chance dar, motivierte Mitarbeiter zu gewinnen und ihnen die Freiheit zur Selbstorganisation zu geben. Gleichzeitig bringt diese Arbeitsweise auch neue Anforderungen mit sich. So sind in agilen Teams meist Generalisten gefragt, die in der Lage sind, verschiedene Aufgaben zu übernehmen und flexibel zu bleiben. Die fortlaufende Weiterbildung und der Austausch zwischen den Teams fördern die Entwicklung von Generalisten und sind ein Vorteil im Angesicht des Fachkräftemangels.
Flexibilität und Anpassungsfähigkeit für eine erfolgreiche agile Transformation
Insgesamt wurde im Forum deutlich, dass eine agile Transformation keine Einheitslösung ist. Es bedarf einer gezielten Anpassung an die jeweiligen Aufgaben und Abteilungen im Unternehmen. Eine schrittweise und gut überlegte Einführung agiler Methoden hilft dabei, den kulturellen Wandel sanfter zu gestalten und die Akzeptanz bei den Mitarbeitern zu fördern. Dabei ist es wichtig, auf eine klare Kommunikation zu setzen und die Führungskräfte aktiv einzubinden.
Eine der großen Stärken der agilen Methodik ist die Möglichkeit, auf das Wesentliche zu fokussieren und das eigene Handeln kontinuierlich zu reflektieren. Die Zukunft liegt in einem ausgewogenen Ansatz, der sowohl die Flexibilität agiler Arbeitsmethoden als auch die Stabilität strukturierter Prozesse vereint.
Fazit: Der Schlüssel liegt im richtigen Mix
Der abschließende Tenor des Forums zeigt, dass die Debatte zwischen Agilverliebten und Prozessbegeisterten oft auf Missverständnissen beruht. Agilität bedeutet nicht das Fehlen von Struktur, sondern die Fähigkeit, flexibel zu agieren und dabei doch einem Rahmenwerk zu folgen. Prozesse wiederum bieten Sicherheit und Beständigkeit, sind jedoch oft weniger dynamisch.
Die Herausforderung für Unternehmen liegt darin, Agilität und Prozesse sinnvoll zu kombinieren, um flexibel und dennoch effizient zu bleiben. Ein hybrides Arbeitsmodell, das sich an die Bedürfnisse der Abteilungen und Projekte anpasst, scheint daher die ideale Lösung für Unternehmen zu sein, die in einer dynamischen und sich schnell verändernden Welt erfolgreich bleiben wollen.